Amsterdam springt über das IJ
Jahrhundertelang lag Amsterdam am Südufer des Nordseearms Het IJ. Immer, wenn die Stadt einer Erweiterung bedurfte, wurde ein Halbkreis zur Stadtstruktur hinzugefügt – ähnlich den Jahresringen in einem halbierten Baumstamm. Während Amsterdam sich nach Süden immer weiter ausbreitete, blieb das Ufer des IJ eine feste Grenze im Norden.
Dennoch entstanden bereits im 19. Jahrhundert erste Pläne für Brücken über das IJ. Kaufleute aus den Bauerndörfern im Waterland wollten ihre Waren nach Amsterdam bringen und entwickelten dafür mehrere Entwürfe für Brücken – die allesamt von der Stadt zurückgewiesen wurden. Sogar als das Nordufer endlich Teil der Stadt wurde und in den 1920er Jahren erste Hafenaktivitäten und Hafenarbeiterwohnviertel entstanden, waren Brücken noch außer Frage. Aufgrund des niedrigen sozialen Status der Einwohner war Noord immer so etwas wie das Australien von Amsterdam: ein Ort, an den man Arme, Kleinkriminelle und Dropouts verschiffte – froh, dass das Wasser dazwischen lag. Obendrein war das Stadtzentrum dicht bebaut und bot gar keinen Platz, wo eine Brücke mit nicht allzu steiler Steigung hätte anlanden können.
Eine der coolsten Nachbarschaften der Welt
Heute gibt es im Stadtzentrum von Amsterdam noch immer keine gebaute Uferverbindung. Die einzige Brücke liegt weit im Osten der Stadt, und die drei Tunnels, die im 20. Jahrhundert gebaut wurden, sind alle nur für Autoverkehr zugänglich. Fußgänger und Radfahrer, die das IJ überqueren wollen, müssen noch immer eine der diversen kostenlosen Fähren benutzen – die immer häufiger überfüllt sind.
Denn im Laufe der letzten Jahrzehnte ist Noord ungeahnt populär geworden. Erst kamen die Kreativen, angezogen von den verlassenen Schiffswerften und Hafengebäuden; dann folgten immer mehr andere Amsterdammer, angelockt von vergleichsweise bezahlbarem Wohnraum. Nun ist die Gentrifikation in vollem Gange. Dieses Jahr ist Noord sogar auf der Liste der “40 coolsten Stadtviertel der Welt” von Time Out gelandet.
Angesichts dieser Entwicklungen sind die Uferverbindungen wieder in das Blickfeld der Stadtverwaltung gerückt. Ein erster Plan, der 2017 entwickelt wurde, sah den Bau eines Unterwassertunnels hinter dem Hauptbahnhof sowie zwei neue Brücken östlich und westlich des Bahnhofs vor. Davon fühlten sich mehrere Architekten inspiriert und entwickelten sofort ungefragte Entwürfe für neue Brücken. Die niederländische Regierung machte sich jedoch Sorgen, dass die Brücken die intensive Binnenschiffahrt auf dem IJ behindern würden. Die Planung kam zum Stillstand. 2019 wurde schließlich eine unabhängige Kommission ins Leben gerufen und damit beauftragt, einen eigenen Vorschlag für die Uferverbindungen zu entwickeln, um die Uneinigkeit zwischen Stadt und Regierung zu bereinigen.
Fähren, Brücken und Tunnels
Im Juni 2020 präsentierte die Kommission unter der Leitung des flämischen Städtebauers Alexander D’Hooghe ihre Studie. Ihr Vorschlag besteht aus zwei Arten von Uferverbindung: Fähren für lokale Mobilität und Brücken für Verbindungen mit überregionaler Bedeutung. Im Houthaven im Westen der Stadt sowie im Östlichen Hafengebiet soll jeweils eine neue Brücke für Fußgänger, Radfahrer und Straßenbahn entstehen. Ein Fußgängertunnel hinter dem Hauptbahnhof, zwei neue Fährverbindungen und der Ausbau der existierenden Brücke im Osten der Stadt ergänzen den Plan. Ein zusätzliches Element könnte eine Seilbahnverbindung im westlichen Hafengebiet sein, für die das Architekturbüro UNStudio bereits einen Entwurf gemacht hat. Sie könnte an den neuen Standort des Kreuzfahrtterminals gekoppelt werden, das den Plänen zufolge in den Westhafen umziehen muss. Nun ist die Frage, ob sowohl die Stadt als auch die Regierung die Vorschläge der Kommission akzeptieren und umsetzen werden.
Als Anneke Bokern und Paul Vlok von architour, die lokalen Partner von Guiding Architects, nach der Veröffentlichung der Studie merkten, dass viele Amsterdammer die Standorte zukünftiger Uferverbindungen gar nicht kannten, haben sie eine 3-stündige Tour zum “Sprung über das IJ” entwickelt und gemeinsam mit dem Architekturzentrum Arcam angeboten. Im September und Oktober konnten sich individuelle Gäste der Fahrradtour anschließen, bei der sie zu allen ehemaligen, derzeitigen und zukünftigen Standorten von Uferverbindungen gebracht, die Pläne erläutert wurden und auch viel Raum für Diskussion war. Die Tour war ein großer Erfolg und war mehrere Wochen in Folge ausgebucht.
Derzeit kann die Tour aufgrund der niederländischen Corona-Maßnahmen nicht stattfinden. Aber sobald Touren wieder erlaubt sind, wird architour den Sprung über das IJ wieder anbieten – mit dem Ziel, dass sich möglichst viele Bewohner und Besucher eine Meinung bilden können über dieses spannende Infrastruktur- und Stadtentwicklungsthema.
Text: Anneke Bokern, Architour
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