Guiding Architects @Home – Diese Woche: Werner Durrer von Madrides
Hier kommt die sechste Folge unserer neuen Interviewreihe. Dieses Mal teilt Werner Durrer von Madrides seine Tips mit uns.
1. Leer
Für gewöhnlich sind viele attraktive Plätze und Gebäude von Einheimischen und Touristen überlaufen, und wir neigen daher dazu, sie aus unserem Alltag auszublenden. Doch nun sind unsere Städte plötzlich leer.
Welche architektonisch und städtebaulich interessanten Orte würdest Du nun bei Euch am liebsten erkunden?
Durch die menschenleere Gran Vía zu schlendern, ist wohl eines der eindrücklichsten Erlebnisse, das man sich in Madrid vorstellen kann. Der normalerweise von tausenden von Stadtbewohnern und Touristen belebte und von Fahrzeugen aller Art versperrte Straßenraum und die Fassaden der angrenzenden Gebäude sind jetzt vollumfänglich sicht- und erlebbar. Doch das plötzliche Fehlen des rund um die Uhr pulsierenden Stadtlebens hat auch etwas Unheimliches: Die gähnende Leere erzeugt ein irreales, fast apokalyptischen Gefühl. Vor über 20 Jahren hat der Regisseur Alejandro Amenábar das Bild der leeren Gran Vía in seinem Film „Abre los Ojos“ (1997), geschickt als Alptraum seines Hauptdarstellers genutzt.
2. Virtuell
In Zeiten der Quarantäne können wir vom Mobiltelefon aus binnen weniger Sekunden rund um den Globus reisen und dank detaillierter Luftbilder und Straßenaufnahmen ungeahnte Einblicke erhalten.
Kannst Du ein Beispiel nennen für eine durch die Sicht vom Himmel determinierte Architektur an Deinem Standort?
Schaut man das unglaublich dicht überbaute Stadtzentrum Madrids aus der Luft an, fällt einem ein städtisches Element auf Grund seiner Form und seiner Dimension besonders auf: Dabei handelt es sich nicht um ein Gebäude, sondern um einen aus der umgebenden Baustruktur „ausgeschnittenen“ Stadtraum; die Plaza Mayor. Für mich ist die Plaza Mayor ein Sinnbild für die Madrider Architektur: Die den Platz begrenzenden Fassaden lassen den Betrachter vermuten, dass er sich mitten im Hof eines Blockrand-Gebäudes befindet. Dass dem jedoch nicht so ist, kann man auf dem Luftbild klar erkennen: Eine den angrenzenden Gebäuden vorgelagerte 5 Meter tiefe Raumschicht bildet eine einheitlich gestaltete Fassade, welche die Plaza Mayor umschließt und so zur Kulisse für das legendäre theatralische Leben der Bewohner Madrids.
3. Revitalisiert
In vorangehenden Krisen hat stets die ältere Generation unseren Jungen helfen müssen. Jetzt ist es genau umgekehrt.
Wie geht man in Deiner Stadt mit alter, brachliegender oder verlassener Bausubstanz um?
Das wohl spannendste und umfangreichste Beispiel für den Umgang mit brachliegender Bausubstanz in Madrid ist die Erneuerung und Umnutzung des alten Zentralschlachthofes zum neuen Kulturzentrum „Matadero“. Auf dem ca 180.000 m² großen Gelände mit 48 Gebäuden und einer überbauten Fläche von 85.000 m² ist über die letzten 15 Jahre ein multidisziplinäre Institution für kreatives Schaffen entstanden, auch in der Architektur: Die für die Umnutzung notwendigen Umbauten sind von verschieden Architekten mit sehr unterschiedlichen Ansätzen geplant und ausgeführt worden. Auf diese Weise ist der Matadero zu einer Art Schaugelände für den Umgang mit bestehender Bausubstanz und die Madrider Baukultur geworden.
4. Versteckt
Als Guiding Architects warten wir sehnsüchtig auf den Moment, ein dem wir erneut die geheimen Orte unserer Städte besuchen und mit unseren Gästen teilen können.
Kennst Du ein Projekt in Deiner Stadt, das man auf den ersten Blick nicht wahrnimmt.
Die Casa de las Flores ist für mich eines der Gebäude, bei dem es viel zu entdecken gibt. Auf den ersten Blick passt der aus den 30er Jahren stammende und vom Architekten Secundino Suazo entworfene Wohnungsbau volumetrisch und ästhetisch perfekt in sein städtisches Umfeld, den Madrider „Ensanche“. Je länger man das Gebäude jedoch betrachtet und analysiert, umso besser versteht man die inhärenten architektonischen Qualitäten, welche die Casa de las Flores zu einem Meisterwerk machen: die geschickte Gliederung des Gebäudevolumens, das raffinierte Spiel von Symmetrie der Sichtbackstein-Fassaden, die fein auskragenden Balkonplatten, die subtile räumliche Artikulierung der Übergänge zwischen öffentlich und privat, und nicht zuletzt die sorgfältig durchdachten, flexiblen Wohnungsgrundrisse.
5. Wertvoll
Plötzlich sind wir gezwungen, innezuhalten und auf alles Unnötige zu verzichten. Unsere Umwelt bekommt eine Verschnaufpause, und wir können uns endlich auf das Wesentliche konzentrieren.
Kannst Du ein Projekt in Deiner Stadt vorstellen, das auf besondere oder ungewöhnliche Art mit dem Thema Nachhaltigkeit umgeht?
Die Stadtregierung Madrid hat zwischen 2003 und 2011 ein ehrgeiziges Projekt verwirklicht, das die Lebensgewohnheiten und somit die Lebensqualität von hunderttausenden von Madridern nachhaltig verbessert hat: Die unterirdische Straßenführung der Ringautobahn M30 entlang dem Manzanares hat es ermöglicht, die an beiden Ufern frei geworden Flächen in eine neue „Fluss-Landschaft“ zu verwandeln. Der Park Madrid Río ist heute ein 7 Kilometer langer öffentlicher Grünraum, der die Stadt von Norden nach Süden durchquert und die zwei an den Flussufern gelegenen Stadtteile, einst durch den stetigen Verkehr der Autobahn getrennt, mit 36 neuen Fußgänger- und Radfahrer-Brücken wieder miteinander verbindet. Einfach großartig!
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