Unterwasserwelt: Neue Fahrradgaragen am Amsterdamer Hauptbahnhof
Dass Amsterdam eine, wenn nicht gar die Fahrradstadt schlechthin ist, dürfte allgemein bekannt sein. Schätzungen zufolge zählt die Grachtenstadt ebenso viele Fahrräder wie Einwohner. 58% der Amsterdamer fahren täglich Rad, und 40% aller Fortbewegungen in der Stadt finden mit dem Fahrrad statt. Weniger bekannt ist dagegen, dass viele niederländische Radfahrer sogenannte treinfietsers sind: ‚Zugradler‘, die täglich per Fahrrad zum Bahnhof fahren, wo sie ihre Reise per Zug fortsetzen. Sie machen insgesamt etwa die Hälfte aller Bahnreisenden aus – und dementsprechend groß ist der Bedarf an Fahrradparkmöglichkeiten rund um niederländische Bahnhöfe.
Am Amsterdamer Hauptbahnhof wurde deshalb bislang in jede verfügbare Nische und in jeden Restraum eine Fahrradgarage gequetscht. Das reichte jedoch hinten und vorne nicht, weshalb auch im öffentlichen Raum viele gut gefüllte Fahrradständer zu finden waren. 2001 kam eine Garage für 2500 Fahrräder nach Entwurf von VMX Architects hinzu, die in einem Hafenbecken neben dem Bahnhof stand. Sie war nur für fünf Jahre konzipiert, blieb aber letztlich 22 Jahre stehen. Nun darf sie endlich in den Ruhestand, denn Anfang 2023 wurden zwei neue permanente Garagen eröffnet, die die Parkkapazität am Bahnhof mit einem Schlag um 11.000 Plätze erhöhten. Sie befinden sich an einem unerwarteten Ort: unter Wasser.
Beachtliche Ingenieursleistung
Auf der Nordseite des Bahnhofs liegt die Fahrradgarage IJboulevard. Sie ist einer Bahnhofshalle vorgelagert, die 2013 eröffnet wurde und eine vierspurige Straße am Ufer des Flusses IJ ersetzte. Damit erhielt Amsterdam Centraal eine zweite Vorderseite mit Wasserblick. Jenseits eines zweispurigen Radwegs erstreckt sich seit kurzem ein 6000m2 großes Plateau, auf dem sich Touristen mit oder ohne Rollkoffer tummeln und Fotos von den Hochhäusern am gegenüberliegenden Ufer machen.
Vermutlich wissen die meisten von ihnen gar nicht, dass sie eigentlich auf dem Dach eines Fahrradgaragen stehen, entworfen vom Büro VenhoevenCS. Zwei Eingänge mit Rampe und eine Treppe führen hinab in die Unterwelt mit 4000 Stellplätzen. Wobei sich der Raum gar nicht wie eine Unterwelt anfühlt: fließende Linien, holzverkleidete Wände, subtile Beleuchtung, lange Sichtlinien und zwei Kunstwerke an den Stirnwänden sollen dafür sorgen, dass die Parkenden sich wohlfühlen und die Garage gerne nutzen. Dahinter steckt eine beachtliche Ingenieursleistung, denn die drei 100 x 30 Meter großen Tunnelsegmente wurden vorgefertigt und auf dem Wasserweg an den Standort gebracht. Da sie in einer Kurve des Flusses liegen, mussten sie außerdem mit einem Anfahrschutz versehen werden. Kokosmatten, Biohütten und poröser Beton zwischen der Pfahlgründung machen sie auch für die Unterwasserwelt attraktiv.
9 Meter unter Wasser
Eine noch größere Fahrradgarage wurde zeitgleich auf der Zentrumsseite des Bahnhofs realisiert. Auch sie liegt unter Wasser, in diesem Fall aber unter einem Hafenbecken. Oben fahren die Rundfahrtboote, unten parken bis zu 7000 Drahtesel. Der Eingang zur 9 Meter unter Straßenniveau gelegenen Stationsplein, entworfen vom Büro wUrck, befindet sich am Südufer des Hafenbeckens. Transportbänder zwischen Wänden aus Basaltstein befördern Rad und Fahrer innerhalb von zwei Minuten in die Tiefe, ohne die denkmalgeschützte Ansicht des Bahnhofsgebäudes zu verstellen. Unten angekommen findet man sich in einem großen, hellen, übersichtlichen Raum wieder, der mit nahtlosem Fließestrichboden und hinterleuchteten Wänden ausgestattet ist. Eine leicht gebogene Kolonnade aus tropfenförmigen Stützen weist den Weg. Hat man sein fiets abgestellt, gelangt man trockenen Fußes zum Ausgang, der direkt in die Bahnhfoshalle mündet. Unterwegs begegnet man mehreren Kunstwerken: hinterleuchteten Oculi mit historischen Stadtansichten in der Kolonnadendecke sowie zwei Reliefs des Künstlers Lex Hoorn, die den Ausgang flankieren.
Was beide Fahrradgaragen gemeinsam haben, ist ein schicker Pavillon für die Servicemitarbeiter sowie doppelstöckige Ständer, die mit einem Detektionssystem für Räder ausgestattet sind. Ein- und auschecken kann man mit der Chipkarte für den öffentlichen Nahverkehr. Wie in allen von der Stadt Amsterdam betriebenen Fahrradparkhäusern, sind die ersten 24 Stunden gratis. Danach zahlt man 1,35 Euro pro Tag. Das ist aber kein Verdienmodell, sondern eher als Maßnahme gegen unerwünschtes Langzeitparken gedacht – denn als das kostenlose, temporäre Parkhaus von VMX Architects geschlossen wurde, blieb man auf 500 herrenlosen Fahrrädern sitzen.
Lust bekommen auf einen Blick in die Fahrradgaragen? Bei einer Architekturführung zu neuen Projekten rund um den Hauptbahnhof oder bei einer Tour zur Fahrrad-Infrastruktur in Amsterdam mit architour können beide Parkhäuser besichtigt werden.
Text: Anneke Bokern, Architour
Links:
https://venhoevencs.nl/
https://www.wurck.nl/
https://www.architour.nl/de/neue-entwicklungen-am-ij/
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